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OECD Studie: Freie Schulwahl und Bildungsgerechtigkeit miteinander vereinbaren

Weltklasse: Schule für das 21. Jahrhundert gestalten

Neue OECD Studie von Andreas Schleicher „Freie Schulwahl und Bildungsgerechtigkeit miteinander vereinbaren“ 19.02.2019 (siehe Kapitel 4, S. 200 – 220 ). Auszüge aus der neuen Studie:

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Vielen Ländern fällt es schwer, das Ziel, die Flexibilität und die Schulwahlmöglichkeiten der Eltern zu erhöhen, mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, die Qualität, Bildungsgerechtigkeit und Einheitlichkeit des Schulsystems zu gewährleisten.

Ein hohes Maß an Schulautonomie ist offenbar ein Merkmal, das leistungsstarken Bildungssystemen gemeinsam ist. Diese ist in den einzelnen Bildungssystemen jedoch sehr unterschiedlich geregelt. Um Schulautonomie und freie Schulwahl miteinander zu verknüpfen und dafür zu sorgen, dass Letztere mit Bildungsgerechtigkeit vereinbar ist, werden oft ganz unterschiedliche Strategien verfolgt.

Eine eingehendere Analyse der Daten zeigt, dass das Für und Wider [Schulwahl] nicht so klar auf der Hand liegt. Man denke an Hongkong (China). Dort wird in fast jedem Bereich öffentlicher Dienstleistungen ein marktorientierter Ansatz verfolgt. Trotzdem ist es Hongkong (China) gelungen, ein hohes Leistungsniveau mit einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit bei der Verteilung der Bildungschancen zu verbinden.

Anders als in erfolgreichen Schulsystemen mit freier Schulwahl, wie jenen in Belgien, Hongkong (China) und den Niederlanden, zog die Einführung der Wahlfreiheit in Chile und Schweden offenbar eine Verstärkung der sozialen Ungleichgewichte nach sich, ohne dass sich die Ergebnisse insgesamt verbesserten. Im Mai 2015 veröffentlichten wir hierzu einen Bericht für Schweden, den ich gemeinsam mit dem schwedischen Bildungsminister Gustav Fridolin und der damals für den Sekundarbereich II, die Erwachsenenbildung und die Berufsbildung zuständigen Ministerin Aida Hadžialić präsentierte22. Fünf Jahre zuvor, im Mai 2010, hatte ich beim Gipfel Europäischer Bürgermeister in Stockholm einen Vortrag gehalten. Dabei hatte ich Daten präsentiert, die zeigten, dass die hohe Schulautonomie und die freie Schulwahl in Schweden, die nicht durch einen starken Regulierungsrahmen und Eingriffsmöglichkeiten flankiert wurden, den langjährigen Erfolg des Landes im Hinblick auf Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit gefährdeten. Ich war überrascht, als mir dann schwedische Bürgermeister erklärten, dass sie die freie Schulwahl auf Wunsch der Bürgerinnen und Bürger ihrer Gemeinden über andere Erwägungen stellten.

Es lohnt sich, die Daten genauer zu untersuchen und dabei auch die politische Konjunktur der betreffenden Themen zu berücksichtigen. Die Wahlmöglichkeiten der Eltern bzw. der Wettbewerb innerhalb der Schulsysteme variieren im Ländervergleich und innerhalb der Länder zwischen verschiedenen sozialen Gruppen erheblich. In den 18 Ländern, für die vergleichbare Daten der PISA-Erhebung 2015 vorliegen, gaben 64% der Eltern an, dass ihnen zumindest 2 Schulen zur Auswahl standen. Dieser Anteil fällt jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich aus23. Eltern von Schülerinnen und Schülern in ländlichen und benachteiligten Schulen boten sich eigenen Angaben zufolge weniger Wahlmöglichkeiten als Eltern von Schülerinnen und Schülern in städtischen und begünstigten Schulen. Bei PISA wurden die Eltern auch gefragt, wie wichtig ihnen bestimmte Kriterien bei der Schulwahl waren. Diese betrafen in erster Linie die Qualität der Schule, finanzielle Gesichtspunkte, den pädagogischen Ansatz bzw. Auftrag der Schule sowie die Entfernung zwischen Wohnsitz und Schule. In den 18 berücksichtigten Schulsystemen stuften die Eltern eine sichere Umgebung, einen guten Ruf und ein aktives, angenehmes Schulklima eher als wichtig ein als die übrigen Kriterien – und werteten sie sogar höher als die schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler der betreffenden Schule24. Bemerkenswert ist auch Folgendes: Die Eltern von Kindern in benachteiligten, ländlichen und/oder öffentlichen Schulen betrachteten die Entfernung zwischen Wohnort und Schule wesentlich häufiger als zentrales Kriterium als die Eltern von Kindern in begünstigten, städtischen und/oder privaten Schulen. Und die Kinder, deren Eltern der Entfernung einen höheren Stellenwert beimaßen, schnitten beim PISA-Naturwissenschaftstest deutlich schlechter ab, und dies selbst bei Berücksichtigung des sozioökonomischen Profils der Schülerinnen und Schüler sowie der Schulen. Gleiches gilt für die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern einen geringen Kostenaufwand als wichtig oder sehr wichtig erachteten. Sie erzielten in Naturwissenschaften 30 Punkte weniger (was in etwa einem Schuljahr entspricht) als die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern einem geringen Kostenaufwand nur eine untergeordnete oder keine Bedeutung beimaßen. Die Eltern von Schülerinnen und Schülern in benachteiligten und öffentlichen Schulen betrachteten auch geringe Kosten häufiger als zentrales Kriterium für die Schulwahl als dies bei den Eltern von Kindern in begünstigten Schulen und Privatschulen der Fall war. Offenbar fällt es einkommensschwächeren Familien häufig selbst dann schwer, Schulen aufgrund der Schülerleistungen auszuwählen, wenn sie Zugang zu diesbezüglichen Informationen haben. Sie haben möglicherweise nicht die Zeit, sich verschiedene Schulen anzusehen, u.U. stehen ihnen auch nicht die nötigen Transportmittel zur Verfügung, damit ihr Kind die Schule ihrer Wahl besuchen kann, oder es ist ihnen aus zeitlichen Gründen nicht möglich, die Kinder zu einer weiter von ihrem Wohnort entfernten Schule zu bringen bzw. sie am Ende des Schultages dort wieder abzuholen. Das Ausmaß des Wettbewerbs innerhalb eines Schulsystems und der jeweilige Anteil von Privatschulen können miteinander zusammenhängen, sind jedoch nicht gleichzusetzen. Im OECD-Durchschnitt besuchen rd. 84% der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler eine öffentliche Schule, rd. 12% eine vom Staat abhängige Privatschule und etwas mehr als 4% eine unabhängige Privatschule. Von den 12% der Schülerinnen und Schüler, die vom Staat abhängige Privatschulen besuchen, gehen etwa 38% in Schulen in der Trägerschaft von Kirchen oder anderen religiösen Organisationen, 54% in Schulen, die von anderen gemeinnützigen Organisationen betrieben werden, und 8% in Schulen, die von gewinnorientierten Organisationen verwaltet werden. In Irland besuchen alle 15-jährigen Schülerinnen und Schüler staatsabhängiger Privatschulen eine konfessionelle Schule, in Österreich hingegen eine von einer anderen gemeinnützigen Organisation betriebene Schule. In Schweden wiederum besucht mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler vom Staat abhängiger Privatschulen eine Schule in der Trägerschaft einer gewinnorientierten Organisation25.

Last, but not least müssen die staatlichen Maßnahmen umso stärker sein, je flexibler das Schulsystem ist. Mehr Schulautonomie, Dezentralisierung und ein stärker nachfrageorientiertes Schulsystem zielen darauf ab, die Entscheidungskompetenz den Akteuren an vorderster Front zu übertragen. Die Zentralbehörden müssen dabei jedoch eine strategische Vision haben, klare Leitlinien für das Bildungswesen vorgeben und lokalen Schulnetzwerken und einzelnen Schulen ein hilfreiches Feedback bieten. Mit anderen Worten: Nur durch konzertierte Anstrengungen der zentralen und lokalen Bildungsbehörden kann sichergestellt werden, dass die freie Schulwahl allen Schülerinnen und Schülern zugutekommt.

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