Fürs Leben statt für die Schule

Ein Bericht über „Unschooling“ für das Migros Magazin.

Die drei Kinder von Bruno und Doris Gantenbein aus Herisau gehen nicht zur Schule. Und doch lernen Sara, Olivia und Nalin alles, was es braucht – freiwillig und wann immer sie Lust dazu haben. Das Konzept heisst Unschooling.  (Bild: Daniel Ammann Text MigrosMagazin)

Olivia (10) übt Reggae am Elektropiano, Sara (13) schreibt einen englischen Brief an eine Freundin in Australien, und Nalin (8) – gerade noch vertieft in seinen Malblock am Schreibtisch – stürmt plötzlich in den Wintergarten, um via Hängematte einen hohen Schrank zu erklettern. «Nalin, das ist jetzt aber ein bisschen gefährlich», mahnt Bruno Gantenbein (54) seinen Sohn. Der jedoch lässt sich nicht beirren, sitzt wenig später auf dem Schrank und schaut grinsend hinunter.

Das Haus der Familie Gantenbein in Herisau AR ist ein einziger grosser pädagogischer Abenteuerspielplatz. Mitten im Wohnzimmer wuchert eine aus Holz gebastelte Burganlage in den Raum. Im Wintergarten ist ein grosser Bauernhof aufgebaut, wo Pferde und Kühe schön aufgeräumt in ihren Koppeln stehen. In der grossen offenen Küche hat es drei kleine Schreibtische. Kletterseile verbinden Räume mit Galerien im oberen Stock, an den Wänden hängen Landkarten und Buchstabengrafiken. Und überall entdeckt man Selbstgebasteltes, Gemaltes – und Bücher, Bücher, Bücher.

Mal nutzen die Kinder die Angebote, mal nicht

«Wichtig ist es, den Kindern eine inspirierende Umgebung zur Verfügung zu stellen», erklärt Bruno Gantenbein. «Ob sie diese dann nutzen oder nicht, bleibt ihnen überlassen.» Seine Frau Doris (41) fügt an: «Und man muss es aushalten können, wenn es manchmal etwas dauert. Sara zum Beispiel hat sich schon sehr früh für die einzelnen Buchstaben interessiert, aber kein bisschen für Wörter oder Bücher. Es hat etwa ein Jahr gedauert, bis sie sich an Wörter machte, und noch mal eins, bis sie ein Buch in die Hand nahm. Kurz darauf verschlang sie dafür bereits mehrere Bücher pro Woche.» Kinder ziehe es zu bestimmten Tätigkeiten hin, wenn sie innerlich dazu bereit seien, und nicht, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hätten, erklärt sie. Die Gantenbeins haben Vertrauen in ihre Kinder, dass das Interesse dann schon kommt – und bis jetzt wurden sie nicht enttäuscht.

Keines der drei Kinder hat je einen Tag in einer regulären Schule verbracht. Und doch können sie nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sie beherrschen auch mehrere Fremdsprachen deutlich besser als gleichaltrige Schulkinder. Sie können backen, klettern, reiten, tanzen und eiskunstlaufen. Und sie wissen dank einem Hof in der Nachbarschaft, wie ein Bauernbetrieb funktioniert. Das alles haben sie gelernt, weil es sie ehrlich interessiert, aus eigener Neu- und Wissbegierde.

Die Gantenbeins nennen ihr Modell Unschooling und erklären es auf ihrer Website so: «Es ist ein vom Kind geleitetes Lernen im normalen Wohn- und Lebensumfeld der Kinder, zusammen mit ihren Eltern oder nächsten Bezugspersonen und ohne jeglichen Versuch, die traditionelle Schule und ihre Lehrpläne nachzuahmen. Es gibt daher weder einen geplanten Unterricht noch bestimmte Zeiten am Tag, für die schulähnliche Aktivitäten vorgeschrieben sind. Themen werden behandelt, wenn das Interesse des Kindes es verlangt. Die Eltern sind weniger Lehrer als vielmehr Unterstützer und Begleiter der Lebens- und Lernprozesse.»

In der Schweiz waren sie ihres Wissens die Ersten, die mit Unschooling begonnen haben. Zuerst galt es, bei den Bildungsbehörden des Kantons Appenzell Ausserrhoden einige Überzeugungsarbeit zu leisten. «Sie waren aber von Anfang an sehr offen und fanden unser Konzept interessant», sagt Doris Gantenbein. Die Familie erhielt eine Bewilligung, zuerst für ein Jahr, später für zwei Jahre. Sie muss jährlich einen Rechenschaftsbericht ablegen und bekommt ein Mal pro Jahr Besuch von einer Vertreterin des Bildungsdepartements. Drei Mal jährlich treten die Kinder zu einer Prüfung an, bei der getestet wird, ob sie das ihrem Alter entsprechende Schulniveau erfüllen (siehe Interview rechts). Die kleinen Gantenbeins bestehen die Prüfungen jeweils mit Bestnoten.

«Am Anfang fand ich diese Tests schon sehr mühsam», sagt Sara, «aber inzwischen sehe ich sie als interessante Herausforderung. Ich lerne dabei ja auch was.» Die Eltern stellten staunend fest, dass die sehr verschulten Prüfungen für ihre Kinder kein grosses Problem waren. «Klar, sie müssen sich vorbereiten, aber inzwischen tun sie das von sich aus», erklärt Bruno Gantenbein. Nur Nalin, der Achtjährige, findet die Tests «blöd».

Die Westschweiz ist offener für alternative Schulformen

Nicht überall ist man so liberal. Im benachbarten Kanton St. Gallen fänden die Behörden immer einen Grund, warum sie den Unterricht zu Hause nicht erlauben, sagen die Gantenbeins. Generell ist man im westlichen Teil der Schweiz offener für alternative Schulformen als im östlichen. In Deutschland ist häuslicher Unterricht sogar ganz verboten. Wobei die meisten Eltern kein Unschooling, sondern Homeschooling betreiben. Dabei lernen die Kinder mehr oder weniger den regulären Schulstoff, einfach bei den Eltern statt in der Schule. Entwickelt hat sich das Homeschooling in den USA und ist dort besonders bei evangelikalen Christen recht verbreitet. Sie wollen vermeiden, dass ihre Kinder weltlichen Einflüssen ausgesetzt sind.

Auch die Schweizer Homeschoolingszene sei religiös dominiert, sagt Bruno Gantenbein. «Wir haben zwar gute Kontakte zu diesen Organisationen, Unschooling unterscheidet sich in der Philosophie jedoch grundlegend. Und in den letzten Jahren haben mehr und mehr Familien mit Unschooling angefangen.» Er schätzt die Zahl heute auf etwa 50. International seien es natürlich viel mehr. «Aber global gesehen, gibt es deutlich mehr Homeschooling als Unschooling.»

Die Gantenbeins haben keine religiösen Motive. Als sie sich 1999 kennenlernten, war sie Primarlehrerin, er Organisationsberater im IT-Bereich – was er auch heute noch ist. Beide vertreten einen sehr freiheitlichen und ganzheitlichen Ansatz des Lebens. «In unseren Gesellschaften wird viel zu viel von aussen bestimmt», sagt Bruno Gantenbein. Er selbst sei mit etwa 20 Jahren zum Unschooler geworden – zu jemandem, «der sich selbst gestaltet, der auf seine inneren Impulse hört und ihnen nachgeht».

Genau das fördern sie nun bei ihren Kindern. «Wir machen nicht Unschooling, wir sind Unschooling. Und das schliesst weit mehr ein, als nur die Kinder nicht zur Schule zu schicken. Es ist eine Lebenshaltung», sagt Doris Gantenbein. Ihr Freiheitsbegriff schliesst auch ein, dass für ihr Wohlbefinden keine Tiere leiden sollen, weshalb sie sich zu Hause ausschliesslich vegan ernähren, auswärts zumindest vegetarisch.

«Wir haben uns zu Beginn viele alternative Schulen angesehen, aber so richtig überzeugt hat uns keine», sagt Bruno Gantenbein. So entwickelten sie schliesslich ihr eigenes Konzept. Sie haben aber nicht grundsätzlich etwas gegen Schule oder Lehrer. «Für viele Kinder kann es ein Segen sein, wenn sie von zu Hause wegkommen», sagt Doris Gantenbein. «Unschooling ist für uns ein Weg, um die Einzigartigkeit und die Integrität des Kindes zu wahren. So werden sie zu selbstsicheren und lebendigen Menschen und können sich den Herausforderungen, die das Leben bringt, auf kreative Weise stellen.»

Der Alltag im Hause Gantenbein wird von ein paar wenigen Leitplanken gesteuert, der Rest ist sehr frei. Die Kinder stehen morgens zwischen 7 und 7.30 Uhr auf – ohne Wecker. Die Mahlzeiten werden in der Regel gemeinsam eingenommen, das Frühstück oft kurz bevor der Vater zur Arbeit geht. Zwischen den Mahlzeiten gehen die Kinder ihren individuellen Beschäftigungen nach. Das Erstaunliche dabei: Sie tun eigentlich immer etwas, das ihrer Bildung und Ausbildung dient. Rechnen gelernt haben sie mit Monopoly, Geografie mit anderen Spielen und Landkarten, auf denen sie eintragen, wo auf der Welt ihre Brieffreundinnen leben. Sprachen lernten sie von ihren Eltern – und von ausländischen Strassenkindern, von denen Gantenbeins jeden Sommer eines für ein paar Wochen bei sich aufnehmen.

«Sie produzieren und arbeiten un­unterbrochen», sagt Bruno Gantenbein, «weil es ihnen Spass macht. Ent­sprechend müde sind sie abends dann auch. Wir haben nie das Problem, dass sie nicht ins Bett wollen.» Eine Struktur in ihren Alltag bringen auch die Reit-, Tanz- und Eistanzlektionen, welche die Mädchen mehrmals pro Woche besuchen. Dadurch kommt auch ihr Sozialleben nicht zu kurz. Alle drei haben Freundinnen und Freunde, darunter auch solche, die regulär zur Schule gehen – und sie je länger, je mehr darum beneiden, dass sie das nicht müssen.

Nicht jede Familie eignet sich für Unschooling

Aus Sicht der Gantenbeins gibt es allerdings ein paar Voraussetzungen, damit Unschooling funktioniert: Beide Elternteile müssen engagiert dahinterstehen, und je gebildeter und lebenserfahrener sie sind, desto besser. Die Eltern sollten möglichst viel Inspiration bieten, etwa durch die Gestaltung der Räume. Ausserdem brauchts eine entspannte Lernumgebung sowie eine unterstützende Begleitung.

Und natürlich ist auch bei den Gantenbein-Kindern nicht immer nur alles eitel Sonnenschein. Sara wurde auf dem Weg zum Bus von ein paar Jungs auch schon als «blöd» verspottet, weil sie ja nicht zur Schule geht. Auch Streit gibts zwischen den Geschwistern ab und zu. Die Eltern begleiten die Kinder bei solchen Konflikten und helfen, faire Lösungen zu finden. Sie setzen auch Grenzen: Die Kinder dürfen alles frei tun, solange sie dabei niemand anderen eingrenzen oder stören. Und fragt man sie, ob sie auch mal was tun müssen, was ihnen keinen Spass macht, sagen sie unisono: «aufräumen!»

Gantenbeins Kinder sollen studieren können

Doris Gantenbein betont, dass es im Alltag immer wieder Situationen gibt, in denen die Kinder nicht einfach tun und machen können, was sie wollen. «Sie haben ja auch viel mit anderen Kindern zu tun, und da muss oft Rücksicht auf andere Bedürfnisse genommen werden.» Was beide Eltern hingegen schon beobachtet haben: Ihre Kinder haben fast kein Konkurrenzdenken. Aber auch das macht ihnen keine grossen Sorgen. «Wir legen hier eine derart gute Basis, dass sie mit allem fertigwerden, was kommt.» Sie zweifeln denn auch nicht daran, dass ihre Kinder dereinst die Matura schaffen und studieren könnten. «Aber diese Entscheidung überlassen wir ihnen», sagt Bruno Gantenbein. «Wir haben keine bestimmen Erwartungen. » Noch haben die drei auch keine konkreten Zukunftspläne. Sara, die sprachlich äusserst talentiert ist, weiss noch gar nicht so recht, was sie will, Olivia möchte etwas mit Pferden machen, und Nalin liebt das Klettern und das Arbeiten auf dem Bauernhof.

Die Eltern haben ihr eigenes Leben derweil sehr stark auf die Bedürfnisse ihrer Kinder ausgerichtet. Er würde eigentlich lieber selbständig sein, «aber das ist finanziell momentan zu unsicher mit einer fünfköpfigen Familie», sagt Gantenbein. Und sie hat ihren Beruf an den Nagel gehängt und ist ganz Mutter und Lernbegleiterin. «Für mich ist das Erfüllung pur, und ich lerne mindestens ebenso viel wie die Kinder.»

Ist der Nachwuchs erst einmal aus dem Haus, wird sich also auch für die Eltern die Frage «Wie weiter?» stellen. Schon jetzt haben sie eine Website, auf der sie von ihren Erfahrungen berichten. Ein Buch über ihr Unschooling-Leben steht kurz vor der Veröffentlichung, zudem sind sie international vernetzt, organisieren Treffen und halten Vorträge. Beide können sich gut vorstellen, sich noch stärker gesellschaftspolitisch für das Unschooling zu engagieren. «Wir sehen darin wirklich den nächsten Schritt, quasi die post-postmoderne Bildung», sagt Bruno Gantenbein. Und je mehr Kinder das Unschooling erfolgreich durchlaufen, desto stärker werde das Konzept für sich sprechen, davon sind Gantenbeins überzeugt.

Ihre drei Kinder haben sich mittlerweile im Wohnzimmer versammelt, um ein bisschen Musik zu machen. Diesmal sitzt Sara am Klavier, Olivia spielt Flöte, und Nalin trommelt auf umgedrehten Plastikeimern. Besonders harmonisch klingt das nicht, aber leidenschaftlich, kreativ und frei.

Link zum Artikel online auf MigrosMagazin.ch

pro-lernen.ch

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