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Freie Schulen für das ganze Land

Seit einigen Jahren können englische Schulen ihre Bindungen an die lokalen Schulbehörden lösen. Nun soll die erfolgreiche Reform für alle Schulen gelten. Kritiker halten das für eine Zwängerei.

 

NZZ Artikel von Markus M. Haefliger, London 3.5.2016

An einem frühlingshaften Vormittag während der Unterrichtszeit deutet nichts darauf hin, dass die Harris Academy Battersea, eine Sekundarschule in Südlondon, vor zwei Jahren zu den schlechtesten Schulen im ganzen Land gehörte. Obwohl die Türen zu den Klassenzimmern offen stehen, ist es auf den Gängen mucksmäuschenstill. Die Schülerinnen und Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren schreiben Examen. Aber auch während des Normalunterrichts herrsche Ruhe und Disziplin, sagt Georgina aus der Klasse 11a, die ihren Prüfungsaufsatz schon abgegeben hat. Früher war das anders. «Die Schule hiess ‹Play Day›, wir machten, was wir wollten.»

Die Academies, etwas missverständlich nach einer Reihe von Berufsschulen benannt, die in den neunziger Jahren ähnlich organisiert waren, sind eine Idee der Labour-Regierung unter Tony Blair. Schulen mit deutlich unterdurchschnittlichen Schulleistungen sollten gewissermassen «wachgerüttelt» werden. Das Erziehungsministerium entzog sie der Aufsicht durch die lokale Schulbehörde, im Gegenzug verfügten die freien Schulen vollumfänglich über die ihnen zustehenden Schulgelder, die anderswo teilweise in Verwaltungskosten flossen.

Dazu kommen Gelder von privaten Gönnern – meist philanthropische Stiftungen wie die Harris Federation – im Umfang von zwei Millionen Pfund pro Jahr und Schule. Mit den Mitteln werden Lehrerlöhne aufgebessert und Zusatzleistungen finanziert. Auch bei den Aufnahmekriterien, dem Lehrplan und der Lehreranstellung verfügen die Academies über erhebliche Freiheiten. Zweck der Reform war, dass in unterprivilegierten städtischen Gegenden der Teufelskreis von Armut, sozialer Zerrüttung, schlechten Schulleistungen und mangelnder Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt durchbrochen wird.

Die freien Schulen hatten Erfolg. Bis zur Wahl der konservativ-liberalen Koalition vor sechs Jahren waren 200 Sekundarschulen umgewandelt worden, alle verbesserten sich danach. Die neue Regierung beschleunigte nach 2010 die Reform und weitete sie aus. So werden nicht mehr nur Problemschulen zu dem Schritt gezwungen, sondern alle Schulen, auch Primarschulen, können in das freie System wechseln. Derzeit geniessen zwei Drittel der Sekundarschulen und 15 Prozent der Primarschulen in England, zusammen 5000 von 20 000 Schulen, Academy-Status. Die Schulen in Schottland, Wales und Nordirland unterstehen autonomen Systemen.

Letzten Monat verkündete Schatzkanzler George Osborne überraschend, das Modell werde auf alle Staatsschulen ausgedehnt. Er begründete den Plan, der die Umwandlung von 15 000 Schulen bis ins Jahr 2022 erfordert, mit dem schlechten Abschneiden britischer Schulen im internationalen Vergleich. Aber es hagelte Kritik. Der Sutton Trust, eine Denkfabrik, die die Chancengleichheit sozial benachteiligter Schichten fördert, hält das Vorhaben für übereilt. Das Academy-Modell könne in Problemschulen Wunder bewirken, darüber hinaus sei der Nutzen unklar, sagt Conor Ryan, der Forschungsdirektor der Stiftung. Die Umwandlung in Academies sei in den letzten sechs Jahren ohnehin zu schnell vorangetrieben worden, «jetzt legt Osborne noch den Turbo ein», sagt Ryan.

Die 800 Schüler und 70 Lehrer der Harris Academy Battersea kümmert die grosse Politik wenig. Die Umwandlung zur freien Schule vor zwei Jahren hat das soziale Klima und ihre Leistungen radikal verbessert. Bis zum Sommer 2014 unterstand die Battersea-Sekundarschule der Schulbehörde von Wandsworth, einer Londoner Stadtgemeinde. Laut Rektor David Moody schnitt sie im nationalen Mittelschulabschluss regelmässig in den untersten 10 Prozent ab. 2015, nach dem Wechsel, wurden in 85 Prozent der Prüfungsergebnisse gute bis genügende Noten erzielt, die Schule gehört nun zur besten Kohorte landesweit.

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Begriffserklärung: Staatsschulen, Freie Schulen, Privatschulen

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